Die Sicherheit der Straße im Jahr 1928

Von den im Jahre 1927 in den Großstädtern Berlin, Hamburg, Leipzig, Zürich, Amsterdam, Prag, Nancy, Rom und Belgrad verzeichneten Verkehrsunfällen kamen 51 Prozent auf Automobilunfälle, 17 Prozent auf Straßenbahnunfälle, der Rest verteilte sich auf andere Fahrzeuge. Man ersieht aus diesen Zahlen sofort, daß der zunehmende Automobilverkehr eine viel weitergehende Sicherung des Straßenverkehrs notwendig macht, als bisher selbst in den verfeinertsten Verordnungen und Erlassen der Verkehrspolizeibehörden vorgesehen ist. Diese Notwendigkeit tritt noch mehr in Erscheinung, wenn wir hören, daß die Zahl der Verkehrsunfälle für die genannten Großstädte unter Einschluß von Frankfurt, Stuttgart, Breslau und Stettin sich für 1927 um 14 ½ Prozent gegenüber dem Vorjahre gehoben hat, während bereits 1926 eine solche Zunahme von ca. 20 Prozent gegenüber 1925 zu verzeichnen war.

Nun muß aber die zu leistende Sicherheitsarbeit in zwei Richtungen unter zwei ganz bestimmten Richtlinien erfolgen, nämlich einmal: „Sicherung des freien und schnellen Verkehrs“ und zweitens: „Schutz für Leben und Eigentum des Straßenpassanten“. Man macht immer wieder die Beobachtung, daß die bisher in den Großstädten getroffene Regelung entweder nach der einen Seite oder nach der anderen Seite übers Ziel hinausschießt. Man darf sich nun keineswegs vorstellen, daß bei den täglich wechselnden Verkehrsverhältnissen irgendwo eine definitive Regelung des Straßenverkehrs ermöglicht worden sei, auch nicht in dem so viel bewunderten Amerika. Die Angelegenheit der Erhöhung der Sicherheit der Straße ist eine ständig im Fluß befindliche und muß stündlich und täglich überwacht und neu geordnet werden. Trotzdem kommt man nicht darüber hinaus, allgemeingültige Grundregeln für den Straßenverkehr des Gebietes einer geschlossenen Nation aufzustellen, woran es eben noch vollkommen fehlt.

Der Stand der Wirtschaft verlangt auch für den Verkehr in den Straßen der Großstädte Erhöhung der allgemein zugelassenen Höchstgeschwindigkeit. Schon lange stehen wir in den größeren europäischen Staaten in den hier erreichten Resultaten selbst hinter kleinen Verkehrsnationen zurück, so etwa gegen Schweden, gegen die Schweiz und sogar gegen die zwei  Großstädte Rumäniens, gegen Bukarest und Konstanza. Diese Erhöhung der Schnelligkeit des Verkehrs in Verbindung zu bringen mit der größeren Sicherheit des allgemeinen Straßenverkehrs, das ist eine Aufgabe, die besonders die automobilistischen Fachkreise anzugehen hat.

Der Automobilist kann am besten davon zeugen, wie sehr gerade das unverständige Publikum zur Erhöhung der Unsicherheit der Straße beiträgt. Wenn man heute in Städten, wie in Magdeburg, Braunschweig und Halle an den Brennpunkten des Verkehrs durch Kettensperrung und vervielfachte Schutzmannsposten die einfache Regel von der geradlinigen Wegüberquerung praktisch durchführen will, so stößt man hier schon auf schier unübersteigbare Hindernisse. Trotzdem muß gerade für die Beschleunigung des Automobilverkehrs unbedingt verlangt werden, daß eine solche Vorschrift für die geradlinige Überschreitung der Fahrdämme nicht nur an den Schnittpunkten des Verkehrs, sondern ganz allgemein im gesamten Stadtgebiet durchgeführt werden muß. Nicht die Erziehung der Automobilfahrer, der Straßenbahnführer, der Fuhrwerkslenker und ähnlicher Personen hat gegenüber der Größe der zu bewältigenden Aufgabe versagt, immer war es in der Mehrzahl der Fälle der Fußgänger, der durch ungeeignetes Verhalten Zwischenfälle und Unfälle hervorrief. Wenn wir wieder die Verkehrsstatistik für die Städte Berlin, Hamburg, Leipzig und München zu Rate ziehen, so finden wir, daß ungefähr in 75 Fällen von hundert der Straaßenpassant eine Gefahr für die Sicherheit der Straße bedeutete. Das muß dem fußgehenden Publikum einmal ganz unverhüllt gesagt werden.

Pariser Straßenbild 1928Pariser Straßenbild 1928

Es bestehen im Deutschen Reich einige tausend verschiedene Methoden, um den Verkehr in den Straßen einheitlich zu regeln. Angefangen vom Verkehrsschutzmann bis zum modernsten Berliner Verkehrsturm mit Fernschalteinrichtung haben sich all diese Versuche  als nicht ideal herausgestellt. Das liegt zunächst daran, daß jeder von seiner eigenen Aufgabe im Verkehr eine eigene und dabei meistens falsche Ansicht entwickelt. Vor allen Dingen muß für den Automobil- und Schnellverkehr verlangt werden, daß die Beleuchtung der sogenannten Nebenstraßen weit besser wird als bisher. In der von uns angezogenen Verkehrsstatistik werden rund 30 Prozent der Unfälle darauf zurückgeführt, daß Unsichtigkeit und Dunkelheit zu Zusammenstößen und sonstigen Zwischenfällen geführt hat.

Eine gewisse Rücksicht auf die Inhaber der Ladengeschäfte war es auch, die dazu führte, Ansammlungen des Publikums in den Hauptverkehrsadern der Städte nicht einfach zu untersagen. Man kann immer wieder feststellen, daß durch die Stauung von Fußgängern vor bestimmten Schaufenstern und Sehenswürdigkeiten der allgemeine Fußgängerverkehr bis auf den Fahrdamm gedrängt wird. „Ideale Voraussetzungen“ werden hier geboten im Verkehrsinneren von Essen, Magdeburg, für einen kleineren Teil Leipzigs und sogar für die nördlichen und östlichen Ausläufer Berlins. Besonders der Automobilverkehr, selbst wenn er einbahnig durchgeführt wird, wird immer wieder durch die Überflutung der Straßendämme aufgehalten. Die Straßenreinigung wird von den Gemeinden und Kommunen noch ziemlich eigenmächtig durchgeführt, trotzdem es lange schon nicht mehr eine ausschließliche Angelegenheit des Stadtbildes ist, ob die Straßen in einem geeigneten Zustand für den Großverkehr sich befinden. Der Automobilist konnte auch noch in diesem Winter zahlreiche Beweise davon bringen, wie schlecht es mit der Entglättung und Schlackfreiheit der Verkehrsstraßen in den Großstädten bestellt ist. Nicht nur, daß die Fahrsicherheit der Kraftwagen, wie übrigens aller anderen auch, aufs höchste beeinträchtigt ist, so wird durch das Ausgleiten und Schleudern anderer Fahrzeuge und Personen in jeder Minute ein neues Gefahrenmoment geschaffen.  Nach den polizeilichen Vorschriften ist in jeder Stadt und in jeder Gemeinde der Hausbesitzer verpflichtet, unmittelbar bei Eintritt von Frost die Straße zu entglätten und zu säubern. Die meisten Stadtgemeinden aber selbst kommen dieser selbstverständlichen Pflicht nur in sehr unzureichendem Maße nach.

Verkehrsplanung Ende der 1920er JahreVerkehrsplanung Ende der 1920er Jahre

Wir kommen zum Schluß noch darauf zu sprechen, daß z.B. in Berlin versucht worden ist, von einem einzigen Mittelpunkte aus den Verkehr für die gesamte innere Stadt zu regulieren. Die Erfolge sind trotz der Abstellung der gröbsten Fehler nicht gerade überwältigend. Wenn man, wie wir zu Anfang forderten, den allgemeinen Horizontal- und Vertikalverkehr bei der Straßenüberquerung einführte, und überhaupt die Überquerung der Straßen nur noch an den Straßenkreuzungen gestatten würde, so wäre man schon der Ideallösung bedeutend näher gekommen, daß sich nämlich eine fast mechanische Regelung des Verkehrs von selbst ergibt. Wenn nun in größeren Entfernungen an den Hauptkreuzungen noch Verkehrstürme in der bereits heute  üblichen Weise unter Zuhilfenahme von Fernschaltungen für ein und dieselbe, auf einmal zu übersehende Straße eingerichtet würden, so wäre zweifellos ein erheblicher Fortschritt ohne Erhöhung der bisherigen Kosten erreicht. Wenn man aber eine gründliche Besserung für die Sicherheit der Straße schaffen will, so setze man nicht etwa Höchstgeschwindigkeiten der Kraftfahrzeuge und eine Reihe von hinderlichen Fahrt- und Signalbestimmungen für diese fest, sondern man versuche eine wirklich rationelle und methodische Regelung des Personenverkehrs in Angriff zu nehmen. Auf diesem Gebiet ist noch viel Arbeit zu leisten.

Dr. Will Fischer
Fotos: Bucovich

8.VII.1928

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